Sterneküche ist großes Kochhandwerk – kein Zweifel. Doch Haute Cuisine kommt ohne eine gehörige Portion Name-Dropping und semantische Effekthascherei nur selten aus. Speisekarten von Sternegastronomen sind gesäumt von blumigen Begriffen, exotische Vokabeln der gehobenen Küche fliegen einem nur so um die Ohren. Sie klingen meist elegant und erwecken den Anschein von höchster Exquisität, doch dahinter steckt in vielen Fällen etwas ganz Simples. Etwas, das man auch anders hätte ausdrücken könnte. Nur wäre dann wohl niemand mehr bereit, Preise jenseits der 30 Euro pro Teller zu bezahlen. In unserer neuen Serie wollen wir versuchen, einige wohlklingende Sterne-Mysterien zu entzaubern und zeigen, was wirklich dahinter steckt. Heute: Die Vichysoisse – eine kalte Kartoffel-Crèmesuppe.
Gelesen in: Effilee, Restaurantrezesion zum Per Se in New York: „Es folgt eine Vichysoisse von der Wasserkresse.“
Eine Vichysoisse soll es also sein. Etwas, das ich in meinem Leben noch nie gehört, geschweige denn gekocht habe. Erste Hinweise liefert mir Google. Dort wird die Suppe – wie bereits angedeutet – als kalte Kartoffelsuppe auf ein gutbürgerliches Gericht reduziert. Doch es gibt offensichtlich feine Unterschiede zwischen der auf edel gemachten Vichysoisse und einer gewöhnlichen Kartoffelsuppe. Die Basis für die Vichysoissie bilden Lauch und Zwiebeln, dazu Kartoffeln, die jedoch bei der Vichysoisse fast gänzlich auf ihre Eigenschaft, eine gewisse Sämigkeit herzustellen, reduziert werden. Auf 500 Gramm Kartoffeln kommt fast eine ganze Stange Lauch und eine Zwiebel.
Der wohl wichtigste Unterschied liegt jedoch in der Basisflüssigkeit. Im Gegensatz zur Gemüsebrühe, die die Kartoffeln normalerweise weichkocht, wird die Vichysoisse mit Fleischbrühe aufgegossen. Das kann entweder ein hochwertiger Fleischfond oder eine handelsübliche Hühnerbouillon zum Anrühren sein, was sich letztlich in den feinen Geschmacksnuancen niederschlägt. Nächster Unterschied: Bevor die Suppe durch Sahne oder Schmand und Gewürze abgerundet wird, muss sie komplett auskühlen. Das erhöht die Zubereitungszeit beträchtlich, denn bis die 100 Grad heiße Suppe bis auf Zimmertemperatur abgekühlt ist, vergeht schnell mal eine Stunde. Natürlich schmeckt die Vichysoisse auch warm oder lauwarm, die Originalform wird jedoch kalt serviert.
Eine Vichysoisse hat tatsächlich einen deutlich anderen Grundgeschmack als eine deftige Kartoffelsuppe, das ergab zumindest meine Testrunde. Durch den verwendeten Fleischfond erhält die Suppe eine leicht säuerliche Note, die Lauch- und Zwiebelaromen stärker zum Tragen bringt. Die reduzierte Menge an Kartoffeln sorgt zusätzlich dafür, dass die für die Kartoffelsuppe typische hohe Sämigkeit verloren geht. Trotz der vielen Sahne, die in dieser Suppenart Verwendung findet, schmeckt sie leicht und versprüht gerade in ihrer kalten Version deutlich mehr Frische als eine heiße Kartoffelsuppe, weshalb sie auch oft als sommerliches Gericht angepriesen wird.
Wie andere Suppen lässt sich auch die Vichysoisse wunderbar mit weiteren Zutaten ergänzen und in ihrer Grundrezeptur abwandeln. In meiner Version habe ich – durch den Effilee-Eintrag inspiriert – kurz vor Ende noch eine Hand voll Kresse mitpüriert. Zusätzlich habe ich Zwiebeln und Lauch zu Beginn mit einem ordentlichen Schuss Weißwein abgelöscht. Variationen mit Erbsen oder Kokosmilch geistern ebenfalls durch das Internet. Der Name dieser französischen Suppe geht auf den französischen Koch Louis Diat zurück, der aus dem Städtchen Vichy in Zentralfrankreich stammte, die Suppe jedoch in New York erfand. Unter anderem deshalb streiten sich Experten bis heute darüber, ob die Vichysoisse nun französischen oder amerikanischen Ursprungs ist. Wer sich mit der Aussprache der Vichysoisse schwertut, dem sei eine leichtere und weniger protzige Alternative an die Hand gegeben: Man darf sie auch „Vichyer Rahmsuppe“ nennen.
Mitnichten soll hier eine Abwertung dieser Kreation stattfinden. Die Vichysoisse ist eine unter Köchen anerkannte Suppenvariation, die Spitzenkoch und Autor Anthony Bourdain in seinerm Werk „Kitchen Confidentials“ als seine erste Begegnung mit Genuss beschreibt. Eine Vichysoisse, die er im Alter von 10 Jahren auf einem Krezufahrtschiff vorgesetzt bekam, beschreibt er dort als „erste Ahnung, dass Essen etwas anderes sein kann, als eine Substanz, die man sich bei Hunger reinstopft – wie Tanken an einer Tankstelle…“